BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Walther von der Vogelweide

nach 1170 - um 1230

 

Sprüche und Lieder

in chronologischer Anordnung

 

Lieder der neuen Minne

1205 bis 1220

 

Ich hôrte iu sô vil tugende jehen (43,9)

Mîn frouwe ist underwîlent hie (44,11)

Die hêrren jehent, man sul den frouwen (44,35)

Sô die bluomen ûz dem grase dringent (45,37)

Aller werdekeit ein füegerinne (46,32)

Zwô fuoge hân ich doch, swie ungefüege ich sî (47,36)

Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp (48,12)

Minne was mîn frouwe sô gar (57,32)

Die zwîvellære sprechent, ez si allez tôt (58,21)

Wie sol man gewarten dir (59,37)

Mir ist mîn rede nû enmitten zwei geslagen (61,32)

Ob ich mich selben rüemen sol (62,6)

Die verzagten aller guoten dinge (63,8)

Die mir in dem winter fröide hânt benomen (73,23)

Ein niuwer sumer, ein niuwe zît (92,9)

Waz hât diu werlt ze gebenne (93,19)

Waz ich doch gegen der schœnen zît (95,17)

Ez wær uns allen (97,34)

Ir vil minneclîchen ougenblicke (112,17)

Bî den liuten nieman hât (116,33)

Ich wil nû mêr ûf ir genâde wesen frô (184,1)

 

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Sô die bluomen ûz dem grase dringent

(Frauenpreis)

I

L 45,37

Sô die bluomen ûz dem grase dringent,

same si lachen gegen dem spilnden sunnen

in einem meien an dem morgen fruo,

und diu kleinen vogellîn wol singent

5

in ir besten wîse, die si kunnen, –

waz wunne kan sich dâ gelîchen zuo?

ez ist wol halb ein himelrîche!

nû sprechent alle, waz sich deme gelîche,

sô sage ich, was mir dicke baz

10

in mînen ougen hât getân

und tæte ouch noch, gesæhe ich daz.

 

II

L 46,10

Swâ ein edeliu frouwe schœne, reine,

wol bekleit und darzuo wol gebunden,

durch kurzewîle zuo vil liuten gât,

hovelîchen hôhgemuot, niht eine,

5

umbe sehende ein wênic under stunden,

alsam der sunne gegen den sternen stât, –

der meie bringe uns al sîn wunder:

waz ist dâ sô wunneclîches under

als ir vil minneclîcher lîp?

10

wir lâzen alle bluomen stân

und kapfen an daz werde wîp.

 

III

L 46,21

Seht sam mir, welt ir die wârheit schouwen,

gên wir zuo des meien hôhgezîte!

der ist mit aller sîner wunne komen.

seht an in und seht an werde frouwen,

5

weder spil daz ander überstrîte.

daz wæger spil, ob ich daz hân genommen?

und der mich danne wellen hieze,

daz ich daz eine durch daz ander lieze,

ahî, wie schiere ich danne kür:

10

hêr Meie, ir müestent merze sîn,

ê ich mîn frouwen dâ verlür.

 

______

 

 

Aller werdekeit ein füegerinne

(Minne-Diskurs)

I

L 46,32

Aller werdekeit ein füegerinne,

daz sît ir zewâre, frouwe Mâze.

ein sælic man, der iuwer lêre hât!

der darf sich iuwer niht beschamen inne

5

beide ze hove noch ouch an der strâze.

durch daz sô suoche ich iemer iuwern rât,

daz ir mich ebene werben lêret:

wirbe ich nidere, wirbe ich hôh, ich bin versêret.

ich was vil nâch ze nidere tôt,

10

nû bin ich aber ze hôhe siech,

unmâze enlâzet mich âne nôt!

 

II

L 47,5

Nideriu minne heizet diu sô swachet,

daz der lîp nâch kranker liebe ringet.

diu liebe tuot unlobelîche wê.

hôhiu minne heizet diu daz machet,

5

daz der muot nâch werder liebe ûf swinget.

diu winket mir nû, daz ich ir mite gê.

enweiz ich, wes diu mâze beitet:

kumet herzeliebe, sô bin ich verleitet.

doch hât mîn lîb ein wîb ersehen,

10

swie minneclîche ir rede sî,

mir mac wol schade von ir geschehen.

 

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Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp

(Gesellschafts- und Frauenkritik)

I

L 48,12

Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp,

dô wâren mîne sprüche ouch fröiden rîche.

sît daz diu minneclîche minne alsô verdarp,

sît sanc ouch ich ein teil unminneclîche.

5

iemer als ez danne stât,

alsô sol man danne singen.

swenne unfuoge nû zergât,

sô singe aber von höfschen dingen.

noch kumt fröide und sanges tac,

wol im ders erbeiten mac!

10

der mirz gelouben wolde,

so erkande ich wol die fuoge,

wenne und wie man singen solte.

 

II

L 48,25

Ich sage iu, waz uns den meisten schaden tuot:

diu wîp gelîchent uns ein teil ze sêre.

daz wir in alsô liep sîn, übel alse guot,

seht, daz gelîchen nimt uns fröide und êre.

5

scheiden uns diu wîp als ê,

daz si sich ouch liezen scheiden,

daz gefrumt uns michels mê,

mannen unde wîben beiden.

waz stêt übel, waz stêt wol,

10

sît man uns niht scheiden sol?

edeliu wîp gedenkent

daz si ouch etewaz kunnen:

gelîchents iuch, ir sît gekrenket.

 

III

L 48,38

«Wîp» muoz iemer sîn der wîbe hôhste name,

und tiuret baz danne «frouwe», als ichz erkenne.

swâ der deheiniu sî, diu sich ir wîpheit schame,

diu merke disen sanc und kiese denne.

5

under frouwen sint unwîp,

under wîben sint si tiure,

wîbes name und wîbes lîp,

diu sint beidiu vil gehiure.

swiez umb alle frouwen var,

10

wîb sint alle frouwen gar.

zwîvellob daz hœnet,

als underwîlent frouwe!

wîp ist ein name, ders alle krœnet.

 

IV

L 47,36

Zwô fuoge hân ich doch, swie ungefüege ich sî,

der hân ich mich von kinde her vereinet:

ich bin den frôn bescheidenlîcher fröide bî

und lache ungerne swâ man bî mir weinet.

5

durch die liute bin ich frô,

durch die liute wil ich sorgen.

ist mir anders danne alsô,

waz darumbe, ich wil doch borgen.

swie si sint, sô wil ich sîn,

10

daz si niht verdrieze mîn.

manigem ist unmære

swaz einem andern werre,

der sî ouch bî den liuten swære.

 

V

L 49,12

Ich sanc hie vor den frouwen umb ir blôzen gruoz.

den nam ich wider mîme lobe ze lône.

swâ ich des geltes nû vergebene warten muoz,

dâ lobe ein ander, den si grüezen schône.

5

swâ ich niht verdienen kan

einen gruoz mit mîme sange,

dar kêr ich vil hêrscher man

mînen nac alder ein mîn wange.

daz sprichet: «mir ist umbe dich

10

rehte als dir ist umbe mich.»

ich wil mîn lop kêren

an wîp, die kunnen danken.

waz hân ich von den überhêren?

 

______

 

 

Die verzagten aller guoten dinge

(Minnelied)

I

L 63,8

Die verzagten aller guoten dinge

wænent, daz ich mit in sî verzaget.

ich hân trôst, daz mir noch fröide bringe,

der ich mînen kumber hân geklaget.

5

ob mir liep von der geschiht,

sô enruoch ich, wes ein bœser giht.

 

II

L 63,14

Nît, den wil ich iemer gerne lîden.

frouwe, dâ solt dû mir helfen zuo,

daz si mich von schulden müezen nîden.

sô mîn lîp in herzeleide tuo.

5

schaffe, daz ich frô gestê,

sô ist mir wol, und ist in iemer wê.

 

III

L 63,20

Friundîn unde frouwen in einer wæte

wolte ich an iu einer gerne sehen.

ob ez mir sô rehte sanfte tæte,

alse mir mîn herze hât verjehen?

5

friundinne, daz ist ein süezez wort,

doch sô tiuret frouwe unz an daz ort.

 

IV

L 63,26

Frouwe, ich wil mit hôhen liuten schallen,

werdent diu zwei wort mit willen mir:

sô lâze ich dir zwei von mir gevallen,

daz si ein keiser kûme gæbe dir.

5

friunt und geselle, diu sint dîn,

sô sî friundîn unde frouwe mîn.

 

______

 

 

Ein niuwer sumer, ein niuwe zît

(Minne-Diskurs)

I

L 92,9

Ein niuwer sumer, ein niuwe zît,

ein guot gedinge, ein lieber wân,

die liebent mir en widerstrît,

daz ich noch trôst ze fröiden hân.

5

noch fröwet mich ein anderz baz

danne aller vogellîne sanc:

swâ man noch wîbes güete maz,

dâ wart ir ie der habedanc.

daz meine ich an die frouwen mîn,

10

dâ muoz noch mêre trôstes sîn.

si ist schœner danne ein schœne wîp:

die schœne machet lieber lîp.

 

II

L 92,21

Ich weiz wol, daz diu liebe mac

ein schœne wîb gemachen wol.

ie doch swelch wîb ie tugende pflac,

daz ist diu, der man wünschen sol.

5

diu liebe stêt der schœne bî

baz danne gesteine dem golde tuot.

nû jehet, waz danne bezzer sî,

hânt disiu beide rehten muot.

si hœhent mannes werdekeit.

10

swer ouch die süezen arebeit

dur si ze rehte kan getragen,

der mac von herzeliebe sagen.

 

III

L 92,33

Der blic gefröiwet ein herze gar,

den minneclîch ein wîp ansiht.

wie welt ir danne, daz der var,

dem ander lieb von in beschiht?

5

der ist eht manger fröiden rîch,

sô jenes fröide gar zergât.

waz ist den fröiden ouch gelîch,

dâ liebez herze in triuwen stât,

in schœne, in kiusche, in reinen siten!

10

swelh sælic man daz hât erstriten,

ob er daz vor den frömden lobet,

sô wizzent, daz er niht entobet.

 

IV

L 93,7

Waz sol ein man, der niht engert

gewerbes umb ein reine wîp?

si lâze in iemer ungewert,

ez tiuret doch wol sînen lîp.

5

er tuo dur einer willen sô

daz er den andern wol behaget,

sô tuot in ouch diu eine frô,

ob im diu ander gar versaget.

daran gedenke ein sælic man,

10

dâ lît vil sælde und êren an.

swer guotes wîbes minne hât,

der schamt sich aller missetât.